Im zweiten Teil der Geschichte zum Leben und Wirken von Mathias Niessl, beschäftigt sich Johann Amsis diesmal mit der Zeit in Wasenbruck.
1920 konnte Opa Mathias Niessl bei der Firma Hutter und Schrantz zu arbeiten beginnen, im Konsumgebäude hat er für seine Familie auch eine Wohnung zugewiesen bekommen. Als er in der Fabrik begann, hatte er eine sehr schwere Arbeit in der Wolferei bekommen, da musste er mit 500–600 kg schweren Säcken gefüllt mit Baumwolle hantieren. Mit der Zeit hat sich Mathias zum sozialdemokratischen Betriebsrat und Parteiobmann hochgearbeitet, fuhr mit Vorträgen über die Sozialdemokratie durch die Gegend.
In Wasenbruck selbst hatte er ein großes Anliegen, eine Schule gab es zwar schon, aber diese war viel zu klein und ein Kinderheim für die Kleinsten fehlte völlig. So musste etwas geschehen, mit großem Nachdruck intervenierte er bei der Marktgemeinde Mannersdorf und auch bei der Firma selbst, so lange, bis die Genehmigung für ein neues Kinderheim erteilt wurde. Die Pläne für das Kinderheim wurden zwar vom bekannten Wiener Architektenduo Alfons Hetmanek und Franz Kaym erarbeitet, aber die baulichen Maßnahmen selbst wurden von der Wasenbrucker Arbeiterschaft durchgeführt. In Mitterndorf an der Fischa bestand seit 1915 ein großes Barackenlager für italienische Flüchtlinge aus dem Ersten Weltkrieg, das mit dem Jahr 1919 langsam aufgelöst wurde. Im Lager wurde auch die dortige Kirche abgebaut, das daraus gewonnene Baumaterial wurde nach Wasenbruck gebracht und damit das geplante Kinderheim errichtet – dieses konnte im Jahr 1926 eröffnet werden.
Als bekennender Sozialdemokrat wurde Mathias Niessl 1934 von der Ständestaatdiktatur gesucht, einige Male konnte er sich erfolgreich verstecken, aber dann haben sie ihn doch erwischt und ihn in das sog. Anhaltelager für politische Häftlinge nach Wöllersdorf gebracht. Mit ihm waren dort neben Dr. Otto Tschadek auch andere führende Sozialdemokraten eingesperrt. Wie lange er dort war, ob Wochen, Monate oder Jahre, wusste niemand mehr so genau. Jedenfalls kam er von Wöllersdorf schwer herzkrank nach Hause, was seine Kinder auf die schlechte Behandlung in diesem Lager zurückführten.
Dann kamen der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Noch am Tag des sog. „Anschlusses“, den 13. März 1938, kam der führende Nationalsozialist aus Mannersdorf zu Mathias und sagte: „heast Motz, ich hob an Briaf fia die daham, den soi i dia am Montog bringa, do steht drin das’d noch Dachau kumst. Owa waunst die bis am Freitag bei da Wehrmacht freiwillig meldest, ist das Geschichte, weil dann bist ja nicht mehr da und ich kann den Befehl nicht mehr bringen“. Das war wieder mal ein seidener Faden. Mathias hat sich tatsächlich bei der Wehrmacht gemeldet und wurde einberufen, da er aber schwer herzkrank war, wurde er bald wieder entlassen. So ging das einige Male hin und her, die Firma Hutter und Schrantz holte ihn oft aus dieser Lage, da sie ihn im Werk gebraucht hatten. Die Familie Niessl hatte insgesamt acht Kinder, wobei Sohn Alfred mit 19 Jahren auf Kreta gefallen ist. Am 20. oder 25. April 1945 wurde Opa Mathias noch zum Volkssturm einberufen, zu einer Artilleriestellung in Hof am Leithaberge – die Russen standen damals schon in Donnerskirchen. Wie es der Zufall so will, war der Kommandant bei der Stellung sein alter Volksschullehrer. Der sagte zu ihm: „die Russen sind eh schon in Donnerskirchen, bei meiner Kompanie ist gestern einer gefallen. Von dem habe ich noch den Urlaubsschein, nimm den und geh zu deiner Familie. Wenn dich wer aufhaltet, sagst du, du bist der, ist eh wurscht, die Russen sind morgen sowieso da, die können wir nicht mehr aufhalten“. Der nächste seidene Faden.
Am 1. April 1945, das war der Ostersonntag, ist die Familie in ihren selbst gegrabenen Bunker, in der Nähe der Einmündung des Italienergrabens in die Leitha, in Deckung gegangen. Angeblich war sogar am 2. April schon ein russischer Spähtrupp in Wasenbruck, am 4. April waren die Russen dann jedenfalls da. Im Bunker war die Familie Niessl versammelt, die großen Kinder, als auch zwei Enkelkinder (3-4 Jahre) und Herr Muzatko, ein Invalide. Die kleinen hatten Keuchhusten und konnten das Husten nicht zurückhalten. Plötzlich wurden die Stauden und Äste zur Seite geschoben und ein „riesengroßer“ Russe stand am Eingang. Auch er war überrascht, dass nur Frauen, alte Invalide und Kinder da waren und sagte: „Uhra, Uhra!“ Herr Muzatko, der einige Worte Russisch konnte, sagte sinngemäß: „du kommst zu spät, dein Kollege war schon hier“. Das war der nächste seidene Faden.
Nach den ersten Wahlen der Zweiten Republik wurde Mathias Niessl 1946 für die SPÖ in den Mannersdorfer Gemeinderat berufen. Drei Jahre später, am 12. April 1949, ist der seidene Faden dann endgültig gerissen, an diesem Tag verstarb Mathias Niessl im 56. Lebensjahr. Am Freitag, den 15. April 1949 wurde der Verstorbene unter sehr großer Anteilnahme der Wasenbrucker Bevölkerung verabschiedet. Das Totenhaus war für die Verabschiedung nicht groß genug, darum wurden im Theater- und Kinosaal die vorderen Sitzreihen entfernt, um dort eine würdige Trauerfeier zu ermöglichen. Nach der Verabschiedung ging der Trauerzug durch Wasenbruck und anschließend zu Fuß nach Pischelsdorf, wo Mathias Niessl im Familiengrab beigesetzt wurde.
Aufgrund der Lebensgeschichte meines Großvaters, kommt mir in den Sinn, dass wir heute eigentlich nur Luxusprobleme haben. Ob der Autobus pünktlich kommt, ob das Internet langsam ist, der Drucker wieder mal spinnt, das Brot um 19:00 nicht mehr warm ist, Maske auf oder nicht. Ich habe mir vorgenommen, als ich diese Geschichte geschrieben habe, alles etwas entspannter zu sehen und dankbar zu sein, dass unsere Vorfahren es uns ermöglicht haben, in Frieden mit allen Annehmlichkeiten zu leben!
Foto 1: Die Frauen von Wasenbruck in der Zwischenkriegszeit, ganz rechts Magdalena Niessl, Mathias' Gattin (Archiv Johann Amsis)
Foto 2: Mathias Niessls "Hauptwerk" in Wasenbruck, das moderne Kinderheim, 1929 (Tätigkeitsbericht des Gemeinderates 1929)
Foto 3: Turnsaal im Kinderheim (Tätigkeitsbericht des Gemeinderates 1929)
Foto 4: "Liegesaal" im Kinderheim (Tätigkeitsbericht des Gemeinderates 1929)
Foto 5: Mathias Niessl während der NS-Zeit (Archiv Johann Amsis)
Foto 6: Parte von Mathias Niessl, 1949 (Archiv Johann Amsis)
Foto 7: Begräbniszug von Mathias Niessl, 15. April 1949 (Archiv Johann Amsis)
Foto 8: Mathias Niessls letzter Weg, begleitet von der Betriebsfeuerwehr und Pfarrer Johann Paviensky aus Pischelsdorf (!) (Archiv Johann Amsis)